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Der Tod im Klassenzimmer und andere Erzählungen

Auf dem langen Weg ins Ungewisse fanden sich zu Beginn des 12. Schuljahres neun tapfere Schüler zusammen, bereit die Klanzstücke der deutschen Literatur durchaus mit heißem Bemühn zu studieren, um am Ende nicht als arme Tore dazustehen.
Zu unserem Schutz stellte man uns Frau Dr. Radmehr zur Seite. Eine leichte Skepsis begleitete ihren ersten Auftritt, der wie alle ihm folgenden durch ein lautes Klappern ihrer Armbänder angekündigt wurde. Schon gleich zu Anfang gab sie uns zu verstehen, daß sie etwas gegen zu spät kommende Schüler habe. Was sie darunter verstand bewies sie dann auf das eindringlichste: Mit einer Mindestverspätung von fünf Minuten konnte man in den gesamten zwei Jahren vor jeder Stunde rechnen. Begrüßt wurden wir dann von einem aufmunterndem Kampfschrei ihrerseits: "So, jetzt gehen wir aber mit vollem Elan an das Buch ran." Wem das noch nicht reicht: Frau Dr. Radmehr liebte die Aufregung. Ein einfaches Leben, in dem die Ordnung herrscht, gab es für sie nicht. Immer wieder hatte sie etwas zu suchen. Nicht gerade selten kam es vor, daß sie sich vor einem verschlossenen Klassenzimmer wiederfand. "Wo ist denn bloß der Schlüssel?", aufgeregt kramte sie dabei in ihrer Handtasche herum. Während wir mit leicht süffisantem Lächeln von einem Bein aufs andere hüpften, überkam sie die Erkenntnis, daß der Schlüssel noch im Lehrerzimmer verweilt. Ähnlich erging es mit ihrer Brille. Unzählige Male hatte sie sich aus unerfindlichen Gründen selbständig gemacht und war nicht im Etui. Statt dessen ruhte sie seelenruhig Zuhause auf dem Nachtisch oder an sonstigen unbekannten Orten. Scheinbar hatte Frau Dr. dann aus Gründen der mangelnden Sicht einige Schwierigkeiten die Schüler auseinanderzuhalten, die immer in sicherer Entfernung zum Lehrerpult saßen. Aber der Eindruck täuscht. Nicht ungern vertauschte sie unsere Namen oder benannte uns nach Romanfiguren. Aber wir wollen hier keineswegs den Eindruck erwägen, wir hätten es mit einer senilen, alten Hexe zu tun gehabt. Die leichten Verwirrungen, die Frau Dr., zuweilen beschlichen, bestärkten nur ihre ansonsten liebenswürdige Art, die sie selbst in den extremsten Situationen versuchte zu wahren. Das kann bei unserem Kurs schon als wahre Leistung bewundert werden. Ein kleiner Teil unserer Truppe versuchte immer wieder durch nicht gemachte Hausaufgaben die schlechte Seite von Frau Dr. zu wecken. Aber mehr als ein finsteres Gesicht und den Kommentar wir seien der untätigste Kurs seit langem, war nicht zu erwarten. Der nächste Versuch bestand darin auf die Fragen, die im Unterricht gestellt wurden nicht zu antworten und einfach in eine tranceartige Stille zu verfallen. Aber für den Notfall hatte unser Kurs immer noch eine Geheimwaffe, die unser Ansehen retten sollte: Eine Schülerin, die sich ohne Einschränkung zu jedem Thema, zu jeder Frage eine Antwort zurechtlegen konnte und diese zumeist auch lauthals von sich gab. Viel Arbeit lag vor Frau Dr., wollte sie uns für das Abitur vorbereiten. Unsere Vorliebe für Bandwurmsätze, die gut und gerne über eine halbe Seite gehen konnten und spätestens nach der Hälfte der im Morast der Unsinnigkeit und Widersprüchlichkeit endeten, galt es auszumerzen. Viel haben wir von ihr gelernt. Davon war natürlich einiges uninteressant und in unseren Augen absolut überflüssig, aber vieles hat und wird uns helfen die deutsche Sprache selbst in ihren schwierigsten Ausführungen ein bißchen besser verstehen zu können. Und zumindest mir ist das Interesse auch mal in einem "alten Schinken" zu blättern, geweckt worden.
Zur krönenden Vollendung unserer Zusammenarbeit wurde der gesamte Kurs, der im 13. Schuljahr noch eine Verstärkung erhielt, zu Frau Dr. nach Hause eingeladen. Kaffee und Kuchen par excellence. Im Unterricht wurden wir mit Literatur vollgestopft und nun mit Kalorienbomben. Mit erhobener Kuchengabel versuchte sie jedem den Teller voller Kuchen zu schaufeln. Dabei gab es nur einen Ausweg: "Ich hätte lieber noch eine Tasse Tee."
"Flieh! Auf! Hinaus ins weite Land" - Auf wiedersehen Goethe, auf wiedersehen Eichendorff, auf wiedersehen Dürrenmatt, die weite Welt ruft, die feingliedrigen Finger der vermeintlichen Freiheit fassen und entreißen uns aus der Widrigkeit von 13 Jahren Substanzlosigkeit.

PS: Die im Text vorhandenen Fehler sind selbstverständlich beabsichtigt und weisen auf die Kreativität der neuen Rechtschreibreform hin. Frau Dr. Radmehr schenkt derselbigen keine Beachtung mehr.

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